Freitag

Von einer Geschäftsreise

Meine liebe Leonore,

als erstes an diesem Tag sollst Du meinen Gruß und meinen Glückwunsch erhalten - deshalb die Eilzustellung. Viel lieber würde ich Dich jetzt in die Arme nehmen, aber der Beruf gönnt uns dies erst am Abend: Ich werde heute pünktlich sein. Versprochen.

Vielleicht fragst Du Dich nun: »Musste das denn sein..., diese Geschäftsreise, die zum Teil meinen Geburtstag einschließt?« Sie ist wichtig, wie Du weißt. Aber davon abgesehen: Hättest Du ohne sie diesen langen Brief von mir bekommen? Hätte ich Dir alles gesagt, was ich Dir jetzt schreibe? Wohl kaum. Wenn man nicht voneinander getrennt ist, gratuliert man, freut man sich und geht zur Tagesordnung über (wenn auch vielleicht zu einer festlichen). Trennung bindet und verbindet oft mehr als Nähe. Zurück zu diesem festlichen Tag, einem Tag wie jeder andere. Wie jeder andere? Ja, die Zeit der Ablauf unserer Zeit ist abstrakt kennt keine Unterschiede. Wenn dieser vom Anlass her festliche Tag wirklich ein festlicher Tag werden soll, müssen wir ihn festlich gestalten. Nur wir, jeder für sich und jeder mit den Menschen seiner Umgebung, machen wir aus toter Zeit lebendige Zeit. Dieser Brief soll ein erster kleiner Beitrag zur festlichen und lebendigen Gestaltung Deines Geburtstages sein. Wie ich das nicht nur denke, sondern auch empfinde, mögen Dir meine folgenden Zeilen verdichtet andeuten:

Der tag schwimmt ins licht
unbeschädigt und ohne belang
blicklos
nicht einmal fragend

du näherst dich langsam
berührst und begreifst
bist ehe du denkst
schon unterwegs

verlierst aus den äugen
vergisst
auf- und ablebend
freude wendend und not

der tag schwimmt ins dunkel
mit deinem gesicht
vergehend
belangvoll

Das mit der Zeit gilt auch für unser ganzes Leben. Es ist ein Grundlagenangebot eine geschenkte Möglichkeit. Nicht die mehr oder weniger lange, mehr oder weniger kurze Zeit die wir hier verbringen, allein die gestaltete, erfahrene, erlittene, mit Freuden erlebte Zeit nennen wir Leben.

Nun haben wir allerdings - so meine ich beobachtet zu haben -an dieser gestalteten Lebenszeit eine Menge auszusetzen. Vor allem: In »normalen« Jahren und Jahrzehnten pflegt ein Tag wie der andere zu vergehen, fast so, als wären wir gelebt worden, anstatt gelebt zu haben. Darüber haben wir schon einmal gesprochen, so mit dem Unterton: »Das kann doch nicht alles gewesen sein?« Diese Aussage-Frage und dieses Thema sind mir immer wieder in den Sinn gekommen, vor allem natürlich im Blick auf mein eigenes Leben, auf Dein Leben, auf unser Leben. Ist nicht ein Tag wie der andere vergangen, in Routine, mit immer gleichartigen Pflichten und Vergnügen, Hoffnungen und Enttäuschungen ?

Ich glaube, wir sehen bei dieser Beurteilung nicht genau genug hin. Darauf gebracht hat mich Hilde Domin mit ihrem Buch »Wozu Lyrik heute?« (Du kennst es.) Sie schreibt über die Sprache in der Lyrik: »Die leiseste Veränderung, gerade die leiseste, verändert schon alles.« Und: »Diese gezielte ,Abweichung', die Variante, ist das, worin Sprach-,erneuerung' praktisch besteht« Minimal abgewandelt: Diese gezielte Abweichung', die Variante, ist das, worin ,Lebenserneuerung' praktisch besteht. -Und wenn Du zweihundertmal im Jahr unsere Kinder zur Schule gebracht hast - kein Schulweg war genauso wie ein anderer. Jedes Kofferpacken, jedes Schneeschippen, jedes Badevergnügen im Urlaub, jedes Brieflesen ist ,anders'. Auch wenn Du diesen Brief in fünf Jahren nochmals liest wird er ein anderer sein.

Allerdings werden die leisen, die leisesten Abweichungen unser Leben, so vermute ich, nur dann verändern, entwickeln, berei ehern, wenn wir sie wahrnehmen. Tun wir das nicht halten wir alles Ähnliche für gleich, so bleiben die Möglichkeiten der leise sten Veränderungen nur Möglichkeiten. Nun habe ich Dir noch gar nichts zu den runden 55 Deines Geburtstages gesagt. Ist das nicht eine außergewöhnliche Leistungi' Was hast Du alles durchgestanden und geschafft? Sei mir nicht böse, wenn ich die verdiente Anerkennung noch ein wenig zurückstelle. Ich meine, zuallererst sind diese 55 Jahre kein Verdienst sondern Gnade und Geschenk. Was könnten wir, bei bestem Willen, ohne dies ausrichten?

Auch hier aber gilt nun wohl, dass geschenkte Möglichkeit noch nichts Verwirklichtes ist Du hast zusammen mit uns, Deine 55 Jahre - liebend, leidend, auch kämpfend - gestaltet. Und das ist schon eine Leistung. Eine Leistung, auf die Du auch stolz sein kannst. Und - da darfst Du ganz sicher sein - wir sind es mit Dir.

Was mich und auch andere immer wieder verblüfft hat ist die unauffällige, undramatische, wie selbstverständliche Verbindung verschiedener Haltungen, Einstellungen, Handlungsweisen in Dir. Faszinierend, wie das zarte, sensible kleine Mädchen und ebenso die zarte, sensible reife Frau Leonore fest und bestimmt sein konnte und kann. Faszinierend, wie hier rasches Entscheiden und Tun mit geduldiger Hartnäckigkeit in schöner Eintracht wirken! Faszinierend, welche unterschiedlichsten Kräfte in diesem zarten, widerstandsfähigen Wesen das Leben meistern! Geschenk, Gnade, Leistung? Ich denke: alles. Du merkst schon, wir bewundern Dich. »Wir«, weil Dich sicherlich auch unsere Kinder so sehen. Wir danken Dir für Deine Leistung, mit der Du unsere Leistungen erst ermöglicht hast aber noch mehr für Deine Liebe und Treue, an hellen und dunklen Tagen.

Herzlichen Glückwunsch -
ich liebe Dich Dein Ernst

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