Reife Liebe

Nach einem Streit

Liebste Maria,

»liebste« nach diesem Streit?, wirst Du denken. Aber ja! Wir haben uns gestritten, aber - ich liebe Dich doch. Obwohl mir Streiten zuwider ist, und ich nicht gut streiten kann: Selbst das halte ich aus - Dir zuliebe. Wärst Du mir gleichgültig, würde ich aufkommende Meinungsverschiedenheiten auf irgendeine oberflächliche Weise rasch beenden, um wieder meine Ruhe zu haben. Da ich Dich aber liebe, geht das nicht. Natürlich meine ich damit nicht dass wir uns unbedingt so streiten müssten wie vorgestern. Nun sitze ich hier, während einer trostlosen Dienstfahrt in einem trostlosen Hotel, und bin betrübt über unseren trostlosen Streit Ich frage mich: Was können wir ändern, um trostlose Auseinandersetzungen zu fruchtbaren Zusammensetzungen zu machen? Kann Streiten nicht auch sinnvoll sein, zu etwas Nützlichem führen, vielleicht sogar stellenweise Spaß machen? Ich, der passionierte Nicht-streiten-Wollende, frage mich das.

Ich glaube, wir vergessen meistens, was die Politiker bei ihren Streitgesprächen immer zu vergessen scheinen: dass ich mich irren kann. Nicht dass man sich irren kann, denn »man« meint stets die anderen. Nein, auch meine sicherste Erkenntnis, meine vertrauteste Wahrheit kann noch ein Irrtum sein. Diesen Gedanken als ständigen Begleiter einzubringen, das wäre doch schon was.

Ich kann mich irren. - Habe ich mich vorgestern geirrt? Dann verzeih' mir bitte. Ich liebe Dich doch.

Wichtig scheint mir auch zu sein, einmal in Ruhe, also zum Beispiel während einer trostlosen Dienstfahrt in einem trostlosen Hotel, darüber nachzudenken, wie ich eigentlich agiere und reagiere, wie ich bin, wenn ich streite. Eigentlich liegt das ja, oft genug geübt klar auf der Hand. Ich weiß es, manchmal ärgere ich mich darüber, aber ich kann es anscheinend nicht ändern, und darüber ärgere ich mich noch mehr.

Aber dieses Sichärgern über das Sich-nicht-ändern-Können ist wohl falsch. Natürlich ist es uns nicht möglich, uns auf der Stelle dauerhaft zu ändern. Warum sich also über etwas Sicheres und Normales aufregen? Ist dagegen nicht schon die Einsicht hilfreich: »So bin ich, so reagiere ich, leider...«? Wenn ich begreife und wahrnehme, dass ich mich beim Streiten meistens anders benehme, als ich gern möchte: Hat das nicht schon Wert an sich, und ist das nicht bereits geeignet, den Streit zu verändern? So heftig und oft, so dumm pflege ich zu streiten. Das sehe ich ein, das bedaure ich. Denn: Ich liebe Dich doch. Dabei - und sei die Erkenntnis noch so richtig - darf man nicht stehenbleiben? Nein, sicher nicht Aber ich glaube: So falsch es wäre, sich damit zufriedenzugeben, nach dem Motto: »So bin ich nun mal«, so falsch wäre es auch, eine schnelle, radikale Umstellung von sich zu verlangen und sie zu erwarten. Da wir uns nicht schnell und radikal umstellen können, würde der Versuch erstens glanzlos in die alte Elendsroutine führen und das wiederum tiefe Selbstenttäuschung und Resignation auslösen. Jeder hat sich sein Streitverhalten auf vielfältige Weise langsam angewöhnt. Nur langsam und auf vielfältige Weise wird es sich auch verändern, kultivieren lassen. Das ist mühsam, aber vielleicht auch ermutigend.

Also: Wenn wir uns in Zukunft wieder einmal streiten, werde ich versuchen, es wenigstens ein bisschen besser zu machen. Denn: Ich liebe Dich doch.

Und nun, bevor ich das Licht lösche, hoffe ich, dass dieser Brief, von einer trostlosen Dienstfahrt aus einem trostlosen Hotel, dennoch kein trostloser Brief ist. Von Gertrud von Le Fort stammt der Satz: »Die Grenze des Menschen ist stets das Einbruchstor Gottes.« Und unsere Grenze verläuft, genau besehen, nicht nur und vor allem am Rande unserer höchsten Leistungen, sondern ebenso, wenn auch weniger bemerkt an den Rändern unserer Alltäglichkeiten.

Nun träume ich noch ein bisschen vor mich hin, und wenn ich einschlafe... denke ich an Dich.

Dein Friedrich

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